28.02.2024

Schneestöbern

Februar 2024

Flockenwirbel hinter dem Flurfenster. Im Atem beschlägt die milchige Scheibe und ich blicke hinaus in Berlins Novemberkälte. Seit es schneit, seit drei Tagen mache ich das. Ein allabendliches Ritual. Ich überlege mir vorher nie so genau, was die Botschaft sein wird.

(Etwas Überwindung kostet es dann doch von der Wärme in den Schnee zu treten…)

Einmal als das Kopfkarussel wieder laut war, schaute ich ZDF. Wirklich - es war so ein dismorpher Tag, dass ich ZDF-Serien schaute. Die Gedanken waren ausgewachsene Chimären an dem Tag. Es war sogar eine Berlin-Serie. Die eine Protagonistin sagte zu ihrem Kumpel/Ex-Freund/Co-Drehbuchautor (so Berlin ey, diese Schrägstriche und die implizierte Mehrfachbesetzung im Leben…):

„So ist das immer mit Berlin. Du denkst jetzt hast Du genug von dieser Stadt und ihrer Scheiße. Jetzt endlich packst du deine Sachen und ziehst weg. Und genau da – genau da wirft dir diese Stadt dann doch noch eine kleine Chance, einen Krümel an Hoffnungsschimmer hin und du denkst dir „Mist“ und bleibst doch.“

Ich paraphrasiere nur. Und überlege, wie lange Lotta mich für ihren Hoffnungsschimmer gehalten hat, bevor sie weg ist. Ob ich erst ein ganzer Brotlaib Hoffnung war und dann nicht mal mehr ein Krümel genug, um sie in Berlin zu halten. Ich zähle meine Hoffnungskrümel. Es ist erbärmlich und jagt mich endlich in den Schnee.

Die Opfer meiner heutigen Tat sind nicht schwer zu finden. Gestern war das anders. Ich gehe da rein nach Bauchgefühl. Wenn ich es weiß, dann weiß ich es.

 

Das Pärchen ist jung. Sie stehen an der Ecke des Böhmischen Platzes. Sie scheinen unschlüssig. Das Mädchen trägt eine rote Baskenmütze über dem dunklen Haar. Sie steckt in einem dicken Mantel und ihr Bewegung hat etwas Ungelenkes. Ich kann sehen, wie sie sich etwas von ihm (keine Mütze, dafür kältegerötete Ohren und schwarzer Mantel) wegbewegt, lacht. Er sagt etwas und kommt näher. Gleich küssen sie sich, denke ich.

Sie setzen sich in Bewegung, weg von dem vietnamesischen Restaurant, in die entgegengesetzte Richtung. Jetzt muss ich mich entscheiden. Handeln, sonst sind sie gleich an den Autos vorbei, die am Rand des Bürgersteigs stehen. Ich laufe los, beschleunige meine Schritte und greife in meine Jackentasche. Ich stocke. Leere – ich habe die Handschuhe vergessen. Egal.

Die beiden schlendern über den Fußgängerweg. Immer wieder bleiben sie kurz stehen, um etwas zu sagen und sich dabei anzusehen. Ich laufe auf der anderen Seite der geparkten Autos auf der Straße an ihnen vorbei, Autos fahren bei dem Wetter kaum. Sie dürfen mich nicht bemerken. Jetzt bin ich auf Höhe des Paares. Ich laufe schneller und überhole sie; bringe noch ca. 30 Meter zwischen uns. Dann schlage ich mich zwischen die Autos und wähle eins mit großen Fenstern, die man vom Bürgersteig gut sehen kann. Die Botschaft wusste ich vorhin schon als ich die ungelenken Bewegungen des Mädchens sah. Liebe als Balanceakt. Leicht ins Schwanken zu bringen. Manchmal fühlt sich das hier so an wie eine göttliche Eingebung. Ich als Prophetin der Moderne. Ich unterdrücke ein Lachen und setze meine Hand oben links an. Die beschneite Autoscheibe als Blockblatt für meine Botschaft. Die Kälte des Schnees beißt schneidend in meinen Finger, aber tapfer führe ich die Bewegung fort.

 

 

Perspektivwechsel

Hand in Hand kämpfen wir uns durch den Berliner November. Von außen müssen wir so glücklich aussehen.

Vorhin im Asia-Restaurant war ich genervt. Mein Blick wanderte nervös über die eingeschweißte Speisekarte. Ich hasse es mehr Geld als nötig für Essen auszugeben. Und ich fühlte mich dir fern, weil es für dich so einfach zu sein schien. Weil ich wusste, dass ich jetzt endlich bestellen sollte. Weil der weggeschickte Kellner wieder zu uns rüberlinste. Weil es mir unangenehm war, wie du angeboten hast es mir auszugeben. Weil ich nicht mit Geld kann. Und dann deine scheinbare Sprachlosigkeit, der ich nichts erwidern konnte.

Jetzt laufen wir durch den Schnee in Richtung meiner neuen Lieblingsbar und ich beschließe die Szene zu vergessen. Der Abend ist noch jung, du bist so selten hier in der Stadt und ich will dir am liebsten alles zeigen. Ich hab dich so sehr vermisst, bin im neuen Bett die Decke umschlingend eingeschlafen, an dich denkend.

Aufgeregt rede ich von Uniseminaren, von neuen Leuten und dem Wahnsinn im Wohnheim. Du lächelst, aber ganz dabei bist du nicht. Da, wo ich immer mehr wollte, warst du froh über alles, worum du nicht kämpfen musstest. Du hast nicht verstanden, warum ich unbedingt in eine andere Stadt ziehen wollte, auch wenn du mich immer unterstützt hast.

Aber Stillstand macht mir Angst und Heimeligkeit erinnert mich an ein warmes gemütliches Bett, in dem man sich einkuschelt und das Leben verschläft. Winterschlaf im Sommer des Lebens.  Mein Lebenshunger gegen die Beständigkeit, die dir Sicherheit gibt. Die du brauchst gegen die Alpträume.

Ich verstumme und verliere mich in meinen Grübeleien. Bis du mich wieder küsst. Bis ich wieder meine Hand in deine grabe. Und wir uns weiterkämpfen durch den Schnee.

Du bleibst stehen. Wie schön du aussiehst. Deine dunklen Augen, in die ich so oft gesehen habe, gerahmt von deinem langen schwarzen Haar, in dem sich die Flocken verfangen. Du siehst aus wie ein Prinz. Und ich will dich wieder an mich ziehen, aber auf einmal schaust du ganz konfus.

„Hast du das gesehen? Was sie geschrieben hat?“, fragst du. „Wer?“ Mir fröstelt und ich fasse deine Hand fester.

„Die Frau. Ans Autofenster. Die ist zwischen den Autos hervorgekommen und hat mich angesehen. Ganz deutlich.“

Du läufst zurück, ich dir hinterher. Tatsächlich. In die Scheibe eines Autos gemalt, steht es:

„Sie liebt dich nicht mehr“

Stille. Dann schnell: „Das kann doch nicht sein, warum tut man sowas?“ Ich trete näher an das Auto. „Und da war eine Frau, die dich angeschaut hat? Hab ich gar nicht gemerkt.“ Gefangen in meinen Gedanken und deinem Gesicht.

„Sie liebt dich nicht mehr.“ Fast schwarz auf weiß steht es da. Das Innere des Autos ist dunkel. Ich sehe, wie die Flocken fallen, sich langsam eine neue Schicht über das Geschriebene legt. Ich kann deinen Atem hören. Hinter mir.

Ich lache es weg. Und greife deine Hand. „Wie verrückt. Warum man sowas wohl macht? Denkst du sie hat wirklich uns gemeint ? Total abgefahren. Was sie sich wohl gedacht hat? Ob sie das öfter macht? Und immer das gleiche schreibt?“ Die falschen Fragen. Du schweigst.

„Aber warum wir?“ Ich spule zurück. „Vielleicht hat sie uns vorhin gehört, als wir über die Sache mit dem Urlaub diskutiert haben. Ob es okay ist zu fliegen, wenn es so viel billiger ist, und daraus irgendwas über unsere Beziehung geschlossen“, mutmaße ich.

„Hmm“, du scheinst mittelüberzeugt und den Rest des Abends kann ich nicht ganz sagen, ob der schale Beigeschmack wirklich vom Bier kommt. Wir spielen Kicker und kichern auf Sofas in der B-Lage. Machen dumme Wortspiele, küssen uns. Ich erzähle von dem Entfremdungsgefühl letztes Wochenende und von meinen Zukunftsängsten, bleibe irgendwann in den Worten verheddert. „Aber ich red´ schon wieder viel zu viel über mich und überhaupt…“ – „Hey“, deine Worte entknoten mich. „Schau mich an. Hey. Ich sag schon, wenn es mir zu viel ist. Ist es gerade aber nicht. Es ist dir wichtig und beschäftigt dich und du bist mir wichtig und…“ Deine Hand greift in meine Haare und zieht mich an dein Gesicht, du senkst deine Stimme „außerdem beschäftige ich mich gerne mit dir.“ Ich muss lache und küsse dich doch, freue mich auf später. „Na gut, aber wechseln wir doch trotzdem das Thema – erzählen Sie mir von Ihrer Mutter.“ Ich bemühe mich um ein therapeutisches Naserümpfen, aber wir enden in einem Deine-Mutter-Witze-Wettbewerb. Deine Mutter kratzt an Bäumen nach Hartz 4. Deine Mutter dreht die Würfel bei Tetris. Wir lachen und halten uns fest. Alles ist warm. Ein älterer Herr lächelt milde. Als deine Augen langsam zufallen, frage ich dich, ob du gehen willst. Du nickst dankbar.

Draußen im Schnee erinnre ich mich an die Worte auf weiß und raffe mich auf. Überwinde meine matschgrau gefärbten Gedanken. „Ich muss noch was tun“, sage ich. Ich greife nach deiner Hand, aber sie steckt in deiner Jackentasche. Dann eben so. Ich spähe nach einem Auto und schreibe „Ily“ in den Frontscheibenschnee. „I love you“, aber in süß und klein und komprimiert. Fast kann ich es fühlen. In groß.

(Vielleicht kann ich nie ganz zufrieden sein.)

 

 

Perspektivwechsel

Ich laufe noch etwas weiter. Ich stelle mir vor, wie das Paar reagiert. Ob er es sieht und ob er etwas fühlt, dabei. Ob er vielleicht so ein kleines beißendes Gefühl in der Brust fühlt oder im Hinterherz, dass schmerzhaft Wahrheit schreit. So wie damals als Lotta es mir gesagt hat. Ich wische die Gedanken beiseite und blicke in den dunkelgrauen Himmel. Mit der Zunge spiele ich Flockenfängerin. Ich schlage mit Absicht den Weg über die Herrmannstraße ein. Da gibt’s ein Fenster mit dem verrückten Mann, der manchmal laut Musik spielt bei offenem Fenster. Immer wenn ich da vorbeilaufe, fühle ich mich weniger allein. Wenn er sogar jetzt, bei dieser Kälte mit offenem Fenster Musik spielt, ist er wirklich verrückt, denke ich. Wenn er sowas hört wie die Smiths, rufe ich vielleicht für ihn an in der Charité, dass da einer verrückt ist. Ob man das machen kann? Einfach bei der Charité anrufen und sagen, dass da jemand verrückt ist? „Entschuldigung, können Sie ihn bitte holen kommen?“ Wenn er aber die Talking Heads hört, werde ich reingehen nehme ich mir vor. „Hey Sie, Sie hören auch die sprechenden Köpfe?“, würde ich durchs Fenster rufen oder einen ähnlichen Mist. Bei sowas funktioniert mein Kopf noch ganz gut.

 

It's okay to be afraid
When the blue sparks hit your brain
We can love one another
I've been told that it's okay


Doctor, doctor, tell me what I am
Am I one of those human beings
Well I can laugh or I can learn to think
So help me now to find out what I feel

 

Ich bin ganz aufgeregt jetzt, ob der Mann wirklich da sein wird und ich hoffe verdammt sehr auf die Talking Heads. So we can talk. One head to another.

Als ich in die Herrmannstraße einbiege, versuche ich also herauszuhören, ob es die Smiths oder die Heads sind. Eins von beidem, davon bin ich überzeugt. Stille. Leere.  Nichts. Dass Fenster ist zu. Zum ersten Mal, seit ich hier vorbeikomme.

Ich laufe schnell weiter. Es ist auf einmal wirklich kalt und als ich an meiner Wohnung ankomme, renne ich fast. Mit klammen Fingern schließe ich die Tür auf. Morgen ist wieder Arbeit. Ich habe 21 Papiernikolausbastelvorlagen ausgedruckt, um sie mit den Kindern zu falten.

Aber jetzt will ich in meinem Kopf wieder bei dem jungen Paar sein. Ich will wissen, was mit ihnen passiert, wer sie sind. Ich fege die Frühstückskrümmel vom Schreibtisch und öffne den Laptop. In einem neuen Ordner erstelle ich das dritte Dokument. Und ich schreibe:

(…)

Maria Pacurariu
Das Foto zeigt Fußabdrücke in einer dünnen Schneedecke, die sich auf den Betrachter zubewegen. Das Bild ist ein weißer Platzhalter. Das Bild ist ein weißer Platzhalter.
Maria Pacurariu
Das Foto zeigt eine Collage mit schwer zu entziffernden Textelementen, gezeichneten Gesichtern und zwei Schmetterlingen. Das Bild ist ein weißer Platzhalter.
Maria Pacurariu
Das Foto zeigt eine pinke und blaue Illustration. Auf pinkem Hintergrund sind kleine blaue Blumen eingezeichnet. Ungefähr im oberen Drittel ist ein Stück kariertes Papier eingefügt, auf dem Das Bild ist ein weißer Platzhalter.
Maria Pacurariu
Die Illustration zeigt ein Gesicht mit lockigen Haaren, die zur rechten Seite des Bildes, in eine gelbe Fläche, geweht werden. Im rechten Auge der Person steht dünn das Wort