11.03.2020

des körpers und geistes einer radikalen südländerin

von jô osbórnia gelesen am 11.02.2020

 

I. präludium des mondes

Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Herbsttag, Rainer Maria Rilke

herr: es ist zeit. ihre flucht ist ihre transition und sie fängt jetzt an.
nun haben sie ihnen ein neues land ausgewählt.
aus der weite der wellen, wo der ozean sich beklagt
da sind sie, verschwundener anonym, atemlos
gelandet in die fremde einer stadt
in die fremde einer sprache
dahinter in der flut ertrinken ihre wunden, dieser aufkommende vers der ferne
weiss ihr beladener körper weder zu erfassen noch zu
lesen nur der mond, ach der mond, der auch hier bang scheint
spricht sie an stundenlang hören sie die versilberte gesänge der neuen
vokalen ihre rheime ihr schein mond perle der nacht zu ihr beten
sie der kadenz nach um die gezeiten der distanz                  o mond!

          heilig sei dieses unmittelbares überleben, aber diese gegenwart tut immer noch so

          weh!..

still und schweigend blieb er im himmel. da unter auf der unruhigsten woge der gewässer
blenden namenlose strassen nüchterne ecke -- ihrer zaghaften stimme hören
sogar unbekannte zu, denen sie bekennen: ich bin eine waige der sprachen, erkennt mich!
was ich hier sage hatte mir zugunste der mond zugesteht, du fremder, in sein zentrum habe
ich salz besehen und daher bringe ich dieses akzent mit:
der rest der verdampften wörter:
das übliche übrige -
salz, ja, glaub’ mir, der mond bracht mir salz bei einer frischen existenz vor dem rollen des
mondes die entfremdeten schmerzen der salz in die wunde die sich wandeln rollen
des mondes perle

                    der nacht

 

II. kafkaesque situationen der metropole

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
Todesfüge, Paul Celan

herr: es ist zeit. ihre flucht ist ihre transition und sie fängt jetzt an.
nun haben sie ihnen die identität des migranten ausgewählt.
das leben in der metropole bietet ihnen zwar die rückzahlung einer historischen schuld an
hier bekommen sie das fehlende der kolonie erstattet:
arbeiten und protestant sparen, das darf hier fast jeder
hier erfahren sie nicht unbedingt diese schmerzvolle gewalt einer
                                                                                    um geld gespalteten gesellschaft
hier sammeln sich alle summen der ausbeutung, hierher
                                                                                                landet das geld
aller genozide die ihre haut so gut kennt
oder ganz einfach: die endlich mal doppelsinnigkeit der schuld gibt es hier
in dieser territorialen sprache!

aber die rechnung der herr? herr: hier steht, wir haben es hier abbezahlt, herr, wollen sie die
rechnung haben? quittung
im ausländerbehörde quittung an der universität quittung am see - und das schweigen
überfließt bis zur zeit des hochwassers...
bis zur zeit des migrantwerdens
bis zur zeit der evokation des n-wortes…

kafkaneske situation 1:

ach, zum studieren, schön, und wie lange bleiben sie hier in deutschland?

kafkaneske situation 2:

sommer, 35 grad. alle sind nackt und der teufelsee ist voll.
ein deutscher herr kommt aus dem wasser. er ist unser naheliegender
nachbar auf den wiesen
geärgert fragt er uns: könnt ihr euch woanders hinsetzen
ich war zuerst hier
oder habt ihr meine decke nicht gesehen?

kafkaneske situation 5:

frau schneider, dozentin der germanistik der HU, sagt:
ja, deutsche literatur ist ja was nur für muttersprachler!

kafkaneske situation 88:

sagen sie mir, bitte, warum sprechen sie mich so an?
was habe ich ihnen eigentlich gemacht?
sagen sie mir, bitte, sind sie AfD-wählerin? ja, sie haben mich richtig verstanden, wählen sie
für die AfD? ihr fehlen an menschlichkeit passt ganz gut zu ihrer agenda, wissen sie es?
ja, lachen sie mich an, aber sagen sie mir bitte:
wer war eigentlich ihre familie im III. reich?
wie bitte? sachlich bleiben? aber wieso, das ist doch die einzige tatsache:
es gibt noch so viele gehorsame nazis unter euch!

 

III. spiegel, geschenk des mondes

Herr, lass mich werden, der ich bin
In jedem Augenblick.
Und gib, dass ich von Anbeginn
Mich schick in mein Geschick
Kurzes Gebet, Mascha Kaléko

herr: es ist zeit. ihre flucht ist ihre transition und sie… ich bin kein herr!
meine transition fing schon an, als mir der mond einen spiegel geschenkt hat
er lag um die ecke, brandneu
vor ihm stand ich in meinem zimmer
und stundenlang habe ich einfach auf die reflexion dessen angestarrt
was drüber passiert: ein herr brach auseinander der herr zerfallender herr
               hat sich mehrmals vor mir umgebracht:
           wortlos gestürzt von so
                                                vielen
                                                         hohen
                                                                   türmen
unter bis in die nichtigkeit des rufes                      des herren           zerfallen
es blieb
         dieser überlebende körper
                                             nacktes wort
das nur nach einer neuen name suchte
             leerer substanz           befreien eines bezeichnenden

und es rief
                       jô                       erneut rief es
                                  jô
             es rief
jô                        jô                           jô

 

                                                             [ FORTSETZUNG FOLGT ]