02.05.2022
Gedichte
von Carl Manzey gelesen am 26.04.2022
Verdacht
Du hast mich verdacht,
auf mich ein Haus gesetzt,
die Tür um Haaresbreite verschlossen,
die Fenster ließt du offen,
in der Küche brennt der Herd,
der Schornstein zieht Luft,
Denken fällt schwer.
Du hast auf mich ein Haus gesetzt,
Dach aus dunkler Asche, Ziegelstein,
es tropft, die Asche hält nicht stand,
schwarze Ziegel fallen, verschwinden
was du mir verdenkst,
mir fehlt das Richtfest sehr.
Morgengrün
Schatten, den die jungen Blätter werfen
schwankt im Tag, den du halbwach beginnst,
blick zum Fenster, sieh, die Wolken wandern,
blondes Haar, die Finger, die du küsst,
Träume, die der Schlaf wie Brote bricht
sind fern, ein weites, unbebautes Land,
streich den Rücken, sieh, die Wolken schwinden.
Setz dich im Mittagslicht auf eine Bank,
dein müder Blick ruht auf den Kirschbaumblüten,
die Bank in ihrem Schatten ist besetzt,
im Rosengarten blüht der Rhododendron,
die Eibe grünt und tanzt im leichten Wind,
Wolken werden grau und du verschwindest
in den Schatten, die von Morgen sind.
Gewohnheit
Eigentlich schlafe ich gerne nackt.
Als du kamst, zog ich mir etwas an: Boxershorts,
Socken,
Handschuhe,
einen Schal,
Winterjacke,
Schneehose.
Eigentlich schlafe ich mit geschlossenem Fenster.
Du risst alle Fenster auf,
frische Luft,
heller Mond und Straßenlärm,
Nachbarn hörten uns.
Eigentlich esse ich gerne Fisch.
Mit dir aß ich Mangold,
Blechkartoffeln,
gelben Reis,
Naturjoghurt.
Eigentlich verstehe ich kein Französisch.
Mit dir lernte ich es:
l‘abri,
l'escargot,
outre mer.
Eigentlich verstanden wir uns.
Als du gingst, zog es mir den Stecker.
Ich verstand kein Wort Französisch,
aß nackt im Bett
filet de truite.
Der Zeitungleser
Neben mir im Flieger.
Schwarze Fingerspitzen vom Blättern,
sich schuldig machen.
Der Zeitungleser hat alles im Griff:
Politik,
Wirtschaft,
Kultur,
Meinungen überfliegt er,
studiert den Dow Jones.
Debatten,
Katastrophen,
Kriege: nichts, was ihn kümmert.
Unterhaltung an Bord eines Fliegers,
der sinkt.
Dorotheenstädtischer Friedhof
Dunkle, wabernde Gestalten,
ragen Äste in den Himmel,
Engel ihre Finger falten,
steinern, Friedhofsmauerklagen.
Drohen Stadtplatanen fleckig,
richten aus, dass Winter ist.
Menschen gehen auf der Erde,
treten fest den grauen Kies,
warten nach der letzten Wärme,
schauen nicht einander an.
Mausoleum ist gezeichnet,
klaffen Löcher in der Wand,
unter Steinen liegen Leichen,
dunkel, wabernd, ungenannt.