19.11.2019

Ohne Titel

von Friedrich Klingenhage gelesen am 19.11.2019

Irgendwie stehe ich so auf dem großen Platz. Der eine Dom besieht den anderen immer noch grad so wie im Sommer, beide haben immer noch ihre Hälse oder diese Halskrause mit den Säulen, aber keine Gesicht, weil sie dann gleich einen Helm aufhaben. Vielleicht ist der Helm auch über das Gesicht gerutscht oder die Krause. Jetzt ist es schon viel kälter als ich das letzte Mal hier war im Sommer, weil jetzt Ende Herbst ist. Eigentlich ist es sogar schon richtig kalt und Menschen stehen in Jacken und Schals herum. Manche laufen auch über den Platz und gucken und es gibt welche, die in ihre Telefone reden und manche reden auch einfach nur so sehr laut. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich hier hergekommen bin, oder was ich hier wollte und dann fragt mich einer von denen, die einen der Dome durch ihr Telefon ansehen: »Can you take picture, me?«, aber ich will kein Bild machen und sage »No.« Der Mann schaut mich an, als hätte ich was Schlimmes gesagt und wiederholt: »Can you take picture, me…«, und er deutet auf den Dom, »church«, dann deutet er wieder auf sich und sagt: »me«, und dann sagt er noch: »photo«.
Ich zeige auch irgendwohin und sage »No, thank you«, und dann drehe ich mich um und ziehe mein eigenes Handy raus und sehe, dass es schon so spät ist, dass das Seminar schon angefangen hat. Ich gehe aber trotzdem in Richtung Uni und links an dem einen Dom vorbei.
Da, zwischen Domseite und Straße, sind diese Bäume mit den nicht mal kniehohen Umzäunungen aus kleinen Metallstäben und die Bäume haben nur noch verfärbte Blätter an ihren Ästen und viele Blätter, die um sie herum auf dem Boden liegen. Und unter dem einen Baum auf und zwischen den braunen Blättern liegen auch noch zwei Tauben. Als ich sie sehe, muss ich stehenbleiben. Die Tauben sind unbeweglich und schimmern in ihren Taubenfarben grau und violett-türkis. Die Tauben sind ein wenig aufgeplustert und haben geöffnete Augen. Sie liegen einander zugeneigt und ich beuge mich ein wenig zu ihnen hinunter, bis ich vielleicht so circa einen Meter von ihnen entfernt bin. Angeblich fliegen Tauben weg, wenn man irgendwas unweit von ihnen in die Luft wirft. Aber ich werfe nichts hoch, weil die sowieso nicht wegfliegen würden, weil diese zwei Tauben, eigentlich zwei tote Tauben sind. Wahrscheinlich sind sie erfroren. So wie sie aussehen, sind sie in einer dieser ersten kalten Nächte einfach so aufgeplustert eingefroren. Vielleicht gestern oder vielleicht war das auch erst heute Nacht. Vielleicht hätten sie eine Halskrause gebraucht, um sich zu wärmen.
Kurz denke ich daran, sie mit dem Fuß vorsichtig zu stoßen. Vielleicht sind sie ja doch nicht tot, aber weil sie doch ziemlich so aussehen, als seien sie gestorben und erfroren, lasse ich meinen Fuß da, wo er ist.
Dass das passieren kann, ist schon heftig. Erfrieren. Irgendwie stelle ich mir vor, dass die das freiwillig gemacht haben. Also im weitesten Sinne. Es hätte sicher auch etwas Wärmeres gegeben. Ich meine, es sind ja nicht alle Tauben erfroren, also müssen die ja was gefunden haben, wo man nicht gleich erfriert. Lange habe ich nie verstanden, wie man sich in einen Fluss stürzen kann, also, wie man sich da ertränken kann, aber dann habe ich in einem Film gesehen, wie sich jemand auf einem Stuhl rückwärts von einem Hochhaus stürzt und das hat dann vieles irgendwie sehr viel klarer gemacht.
Ich schaue, aber niemand sieht so aus, als habe er die Tauben gesehen.
Die zwei eingefrorenen Tauben.
Dann kommt jemand mit seinem Hund und der Hund beriecht die Tauben, seine Nase ist mein Fuß, der sich nicht bewegt hat und jetzt doch irgendwie, nur anders. Und der Mann der auch an der Leine ist, nur auf der anderen Seite, guckt auf sein Telefon und zieht nach dem Hund und der Hund hebt ein Bein und dann ist die eine der Tauben mit Hundeurin und ich drehe mich um, weil ich das nicht sehen will, aber ich habe es natürlich doch schon gesehen und dann bleibe ich stehen und fast hätte ich das wieder weggewischt, den Urin von der kalten Taube, mit meinem Jackenärmel, aber dann gehe ich doch in Richtung Uni.
Als ich über den großen Platz laufe und das Rosa von dem Gebäude rechts irgendwie so ist, als würde es gleich in den Boden fließen, sehe ich zwischen den anderen Menschen, die auch über den Platz gehen, einen Kommilitonen von mir. Sven heißt der. Oder Tim. Er ist allein und geht vielleicht so zwanzig Meter vor mir, weshalb ich ihn nur von hinten sehe. Aber ich sehe die dunklen Haare und wie sie so kurz geschnitten sind, glaube ich, dass es Sven ist. Oder eben Tim. Und als ich dann näher komme, weil er an der Ampel steht, bin ich mir doch nicht mehr so sicher, ob er das wirklich ist. Dann denke ich kurz, dass es vielleicht Johannes ist und dann bin ich mir sicher, dass ich ihn gar nicht kenne.
Aber ich bin mir auch nicht ganz sicher, weil dann die Ampel grün wird und ich ihn doch nicht von ganz nahem sehen kann oder wenigstens sein Profil. An der Uni läuft er dann links vorbei, vielleicht ist es wirklich jemand ganz anderes. Ich gehe durch den Haupteingang, weil man da schneller zur Bibliothek kommt und weil es dann, ganz kurz wenigstens, auch nicht so kalt ist.
Weil das Seminar ja jetzt schon längst angefangen hat, gehe ich an dem Gebäude vorbei, in dem der Seminarraum ist und dann bleibe ich vor dem Eingang der Bibliothek stehen. Ich lehne mich kurz an die Wand und schaue hoch in der Himmel, aber der ist von Wolken verdeckt und man kann den Himmel gar nicht sehen. Ich stelle mir vor, dass das der Grund ist, warum die Farbe aus den Häusern fließt. Weil der Himmel eigentlich viel zu groß ist und auch viel zu schwer und Wolkengrau dann notwendigerweise auch auf der Erde sein muss und am ehesten eben in den Fassaden.
Ich merke, dass, wenn man sich so gar nicht bewegt, es eigentlich schon ziemlich kalt ist und ich wackel ein bisschen herum, dass es etwas wärmer wird, aber dann komme ich mir dabei ziemlich blöd vor und außerdem stehen neben mir drei, die mich sicher komisch anschauen, aber eigentlich gucken die gar nicht rüber, eigentlich reden die nur sehr laut und einer tritt seine Zigarette aus und dreht so mit dem Fuß auf dem Boden herum und auch wenn ich nicht zuhören will, kann ich nicht mehr weghören und einer von ihnen sagt: »Ich hab‘ diese Band da entdeckt, die… die machen so richtig guten… das ist schon prall.« Es gibt Leute, die können so nicken, dass die ganze Welt ihnen alles glauben würde. Ok, vielleicht nur fast alles. Und vielleicht auch nicht die ganze Welt. Aber die beiden anderen fangen dann auch an so zu nicken und ihre Köpfe schauen aus Daunenjacken und ich frage mich, ob die da Taubenfedern drin haben und der eine fragt: »Wie heißen die, die Band, wie heißen die?« »Ja, Big Big Animals.« »Aaah«, macht der andere und seinen Mund sehr weit auf, »hab‘ ich noch nie… ne, die kenn‘ ich nich‘.« »Ich auch nicht«, schüttelt der letzte seinen Kopf in seiner Taubenjacke.
Der erste nickt. Klar kennt nur er die. Und wie ich da so angelehnt an der Bibliotheksmauer bin und ich, klar, nur ganz zufällig in die Richtung sehe, muss ich daran denken, dass ich letztens, als ich im Drogeriemarkt war, gesehen habe, dass es Haarwachs gibt, das beworben wird, indem da Surfer Matte ganz groß draufsteht und darunter in kleiner Surferlook. Ich weiß nicht, aber ich finde Matte hört sich schon eher unbegrenzt dämlich an. Dass das jemand auf seinem Kopf haben will, eine Matte, scheint mir eher unwahrscheinlich, das wäre dann ja doch irgendwie ein sehr offensichtliches Dämlichkeitsbekenntnis.
Normalerweise will man das vermeiden, denke ich. Aber ich habe mir trotzdem vorgestellt, wie das jemand sieht, das Haarwachsdöschen und denkt, dass, wenn er sich das jetzt in die Haare schmiert, so aussieht wie die Surferjungs, die man halt so kennt, die mit gerader Brustmuskulatur, Bauch aus Brettern und Teint, weil Sommersonne und den Frauen, die zuschauen und rote Badeanzüge tragen, welche die Beckenknochen nicht bedecken und ich habe mir vorgestellt, wie die Surfermatte das wirklich glaubt, dass sie auch so aussieht wie Jungs in Portugal und Kalifornien, und dass niemand das merken würde, dass das irgendwie ein wenig falsch ist vielleicht, weil es ja hier, in dieser übergroßen Stadt einfach gar nichts gibt, das irgendwie wie ein Strand mit Wellen ist und es deshalb also gar keinen Grund gibt, so auszusehen wie ein Surferjunge und ich habe mich gefragt, wer das trotzdem macht, aber jetzt weiß ich, dass der Big-Big-Animals-Typ das macht und wahrscheinlich findet er das gut. Sonst hätte er das wahrscheinlich ja auch nicht gemacht. Und er sagt: »Ja, ne, die sind auch underground.« Und der andere sagt: »Ich liebe underground!« Und der letzte sagt: »Ja, Mann! Voll!« Die Matte schüttelt den Kopf: »Ne, die sind echt krass, Avantgarde-Synthie-Pop mit Einschlägen der frühen englischen Postpunkszene, also eher noch in die Richtung von den ganz Großen damals«, er fasst sich ans Kinn und kratzt ein wenig, »und die Bühnenshows, Leute, die sind richtig heftig, nur mit Cooperations mit Performancekünstlern, da bist du echt immer… also… das ist echt richtig prall, richtig krass! Muss man eigentlich mal gesehen haben« »Wow…«, die beiden anderen sind sprachlos und ich bin auch sprachlos.
Ich schaue die Straße runter und hoch. Die jungen Leute, die hier studieren und hier herumlaufen und -stehen und rauchen, sehen zu mehr als achtzig Prozent so aus, als sei alles sehr wichtig. Ich finde das bewundernswert.
Die Matte in Daunen sagt: »Ja, und die Texte sind so eine Mischung aus Deutsch-Trash, aber dann auch viel Dadaismus, Hugo Ball und so, hat was postmodernes, ist dann aber doch voll 2000er, irgendwie. Und, ach so, ja, am Samstag sind sie hier, Konzert…Huxleys…« »Nein! Die muss ich auch sehen« »Ja, voll!« »Ah… sorry, Jungs«, und die Matte schnalzt mit der Zunge und der Kopf zuckt in eine Richtung, »leider schon ausverkauft, da muss man richtig früh dran sein, klar.« Und als die anderen sagen, wie schlimm das ist, wie wirklich schlimm, gehe ich rein und hoffe irgendwie, dass sie heute Nacht irgendwo erfrieren, weil sie sich so lang irgendwo zum Feiern anstellen und dann einfach erfroren umfallen.
Ich gehe also in die Bibliothek und sperre meine Sachen in einen Spind.
Neben mir sperrt eine junge Frau auch ihre Sachen ein und beugt sich zu ihrer Tasche nach unten. Ich schaue sie so an, dass man es nicht merkt, dass ich ihre Beine ansehe. Aber sie merkt es doch und dann hockt sie sich hin und dreht mir ein wenig den Rücken zu. Ich seufze, aber mehr so in mich hinein und lasse das Vorhängeschloss zuschnappen.
Ich habe keine Lust, Texte zu lesen und ich gehe in Richtung einer dieser Räume mit den öffentlichen Computerarbeitsplätzen. Dabei sehe ich, dass Sven mit einer Frau im Treppenaufgang steht und sich leise mit ihr unterhält. Ich versuche ganz zufällig und lässig an ihnen vorbeizulaufen und als ich auf einer Höhe mit ihnen bin, schaue ich sie an, aber wie gesagt, zufällig, und ganz überrascht sage sich: »Oh, hey, Sven!« Sven schaut zu mir, aber er sieht eher irritiert aus. Er schaut zu der Frau und dann zu mir und weil ich stehen geblieben bin, komme ich mir auf einmal gar nicht mehr ganz zufällig und lässig vor und ich versuche was zu sagen, aber sage nur so was wie »Äh« und dann wird mir sehr heiß und mir ist das alles ziemlich peinlich und ich versuche zu nicken und versuche loszulaufen und zu den Computern zu gehen, aber irgendwie komme ich nicht weg und dann schaut die Frau auch noch so und die Frau ist wirklich sehr schön, weil sie so einen ganz kurz geschnittenen, fransigen Pony hat und dunkle Augen und dann schaffe ich es doch »Naja, bis dann«, zu sagen und den Gang entlang und dann bin ich endlich im Computerraum, aber die Türklinke rutscht mir aus der Hand, weil da so viel Schweiß ist und sie knallt ein bisschen ins Schloss, was mir auch schon wieder super unangenehm ist und ich ziehe ein wenig meinen Kopf ein und dann setze ich mich an einen der Computer und, um mich ein wenig zu beruhigen, schaue ich erst einmal, was so über das Spiel heute Abend gesagt wird. Viertes Championsleaguespiel für die
Bayern: „wird schwer“, „Härtetest“, „fokussiert“, „richtungsweisend“ und so weiter. Draußen, kann ich jetzt sehen, ist es schon fast dunkel und die Straßenlaternen müssten eigentlich jeden Moment angehen und irgendwie beruhigt mich das alles und ich schwitze auch gar nicht mehr so sehr.
Und dann finde ich zufällig einen Artikel, der beschreibt, dass Leute, wenn sie miteinander Sex haben, eigentlich ganz distanziert sind. Die Artikelüberschrift ist Warum so viele leer beim Sex mit ihrem Partner sind. Da steht, dass die Leute zu viele Videos geschaut haben, und dass die Videos Gewalt oder so gezeigt haben und dass die Leute im „echten“ Leben aber nicht so Sex hätten, weil man das da nicht will, und dass man dann aber eben doch Sex hat, weil man ja Sex haben muss, aber gleichzeitig hat man auch nicht Sex, weil das nicht so ist, wie wenn man sich einen runterholt, weshalb man eigentlich dann gar keinen Sex hat, weil man eben gefühlsmäßig und auch mit den Gedanken ganz weit weg ist und dann ist man gar nicht erregt, weil das Gehirn schon die Verknüpfungen ganz woanders gemacht hat, Synapsen, die eben nur anfangen zu flirren und platzen und Sachen, wenn jemand geschlagen wird, aber weil dann niemand geschlagen wird und deepthroat sowieso nicht und eigentlich überhaupt nichts, nicht mal ein Kratzer, jetzt sowieso nicht mehr, da merken die Leute, dass Sex mit anderen eigentlich nicht das ist, was sie wollen. Und in dem Artikel steht auch, dass das eigentlich mehr bei Männern so ist und dann steht da auch noch was über Pornopartys von Minderjährigen, wobei die nicht sagen, wie alt die Minderjährigen sind, weil minderjährig ist man ja eigentlich von Geburt an und das hört erst auf, wenn man achtzehn ist. Das Problem, schreiben die dann noch, das Problem mit dem Sex haben, aber nicht Sex haben und Sex wollen, aber nicht so, das Problem ist dann das, dass die Leute noch mehr von diesen Videos gucken und noch mehr, und dass dann alles noch viel, viel weniger funktioniert. Und eigentlich wollen sie schon Sex mit Menschen, weil in den Videos sieht man ja auch Menschen, aber Sex mit Menschen doch nicht und das alles führt dann logischer Weise dazu, dass niemand mehr weiß, was er will.
Ich lese den Artikel nicht zu Ende, weil mich das schon ein wenig fertig macht. Und eigentlich macht mich das sogar ziemlich fertig. Ich meine, wenn man mit jemandem so nah ist und dann sich weiter als zuvor entfernt anfühlt, dann weiß ich auch nicht mehr, was man noch machen kann.
Vielleicht ist es doch besser, manchmal ein Tier zu sein oder so was.
Eine Schildkröte oder so. Vielleicht auch was größeres, ein Hund.
Vielleicht eine Eintagsfliege. Dann wäre alles auch immer neu, weil die Sonne ja nur einmal auf und nur einmal wieder untergeht. Das stelle ich mir sehr schön vor und ich merke, dass ich wirklich gern mal eine Eintagsfliege wäre und das beruhigt mich dann wirklich und ich merke, wie ich entspanne.