05.11.2019

Vom Da sein

von Johann Krüger gelesen am 05.11.2019

Jeder ist irgendwie da. Viele waren da, viele sind da, viele werden da sein. Aber für sich selbst ist jeder immer da, weil jeder ja immer da ist, wenn er da ist.
Ich bin für mich also immer da. Für meine Eltern war ich nicht immer da. Für meine Kinder werde ich hoffentlich nicht immer da sein, weil ihr Da später beginnt und meins früher endet. Aber für mich selbst bin ich immer da.
Für jemanden in Australien bin ich nicht da, und werde wohl auch nie da sein, auch wenn ich zum selben Zeitpunkt da bin, denn ich bin nicht am selben Ort. Für die meisten in Taizé bin ich da, werde in einer Woche aber nicht mehr da sein, auch wenn ich noch da bin, aber aus den Köpfen bin ich weg. Und wer in keinem Kopf ist, ist auch nicht da. Für meine Freunde bin ich immer da, auch wenn ich nicht immer da bin.
Nicht jeder, für den ich da bin, ist auch für mich da, denn für jeden sind andere da. Auch nicht jeder, der für mich da ist, für den bin auch ich da. Ich bin gern für andere da, aber für manche wäre ich gern überhaupt erstmal da. Je mehr jemand anderes für mich da ist und gleichzeitig aber ich nicht für ihn, desto schmerzvoller für mich. Je mehr ich für jemand anderen da bin und gleichzeitig aber er nicht für mich, desto schmerzvoller für ihn. Für den anderen Sinn des Daseins, nun als Kümmern und Hilfe statt vorhanden und wichtig verstanden, verhält es sich genau umgekehrt. Je mehr jemand anderes für mich da ist und gleichzeitig aber ich nicht für ihn, desto schmerzvoller für ihn. Je mehr ich für jemand anderen da bin und gleichzeitig aber er nicht für mich, desto schmerzvoller für mich.
Warum kann da sein so verschieden sein? Und wieso hat Da sein im entgegenstehenden Fall immer etwas schmerzvolles? Sind beide gegenseitig da, hat es etwas Freudvolles, egal welche Bedeutung von da man betrachtet. Dafür hat es etwas umso Schmerzvolleres, wenn man füreinander da und da war, aber nun nicht mehr. Wenn man weder da noch da ist füreinander, schwingt da nichts mit.
Da sein ist etwas Existenzielles, körperlich und geistig. Gott ist körperlich nie da, geistig oft. Tote sind körperlich nicht mehr da, geistig können sie es noch. Freunde sind körperlich nicht immer da, geistig aber immer. Es gibt nichts, was zu allen Zeitpunkten weder körperlich noch geistig da ist, denn dann ist es ja nicht da und es gibt es auch nicht.
Verliebte sind geistig zu viel da, denn Geliebte sind für Verliebte geistig immer da. Geliebte sind problematischerweise körperlich nicht immer da, je nach Fall dafür immerhin da, und schon gar nicht da für Verliebte. Manchmal sind Geliebte sogar weder da noch da, und nun gehen wir wieder in Richtung Schmerz. Aber: Wer ist immer da, sowohl geistig als auch körperlich? Nur man selbst, und dabei wird es immer bleiben. Ich bin für mich immer da. Das ist brutal, denn nicht immer möchte ich für mich da sein, aber ich muss.
Da sein ist also immer verschieden, nie einfach, in den meisten Fällen schmerzvoll, manchmal nichts, manchmal freudvoll. Nur eines kann ich beim Da sein wirklich beeinflussen, und das hat auch den größten Einfluss auf mich: Ich.

Sinnbildend erschließt sich die Motivation, möglichst friedvoll mit sich selbst zu leben. Dazu gibt es zwei Möglichkeiten zur Einigung von Ist- und Soll-Zustand: Veränderung des Ist- oder des Soll-Zustands.
Nun sagt Arthur Schopenhauer: „Der Mensch kann tun was er will, aber er kann nicht wollen was er will.“ So wird nun mit Müh und Not der eigene Charakter geändert: Faulheit, Schönheit und Schlauheit werden improviert. Diese Maßnahmen sind so weit verbreitet, dass es sogar einen Begriff dafür gibt: Selbstkompetenz. Wer das aber schon einmal probiert hat, wird vielleicht wissen, wie viel Motivation, Geduld und Anstrengung das kostet für ein nicht ansatzweise garantiertes Ergebnis.
Schopenhauer scheinbar missachtend, können wir unsere Ziele, wie wir selbst sein wollen, verändern. Auch dies erfordert Anstrengung, aber vor allem Einsicht und Bewusstsein über sich selbst. Auf unserem Weg arbeiten wir also zuerst an unserem Selbst, dann an unserem Selbstbild.
Trotzdem ist der Glückseligkeitszustand nicht erreicht, denn was Schopenhauer hier meint, sind unsere Gedanken. Ich kann übertriebene Eifersucht im ersten Schritt unterdrücken und verstecken, sie im zweiten Schritt akzeptieren, und trotzdem werden diese Gedanken immer da sein und immer Unruhe stiften. Ich kann unerfüllbare Liebe im ersten Schritt unterdrücken, sie im zweiten akzeptieren, und trotzdem werden diese Gefühle immer da sein und mich ins Chaos stürzen. Ich kann eigene Imperfektionen im ersten Schritt ausmerzen, und werde scheitern, sie im zweiten Schritt akzeptieren, und werde scheitern, und deshalb werde ich mit mir selbst und jeder mit sich immer kämpfen und kämpfen müssen. Und das… ist gut so.
Ohne den Kampf bin ich selbst schuld an allen meinen Fehlern. Mit auch, aber es werden weniger sein.
Ohne den Kampf trete ich auf der Stelle, und Anpassung war nicht nur in Millionen Jahren Evolution wichtig gewesen, sondern ist es auch in jedem Moment der Gegenwart.
Ohne den Kampf wäre mir langweilig, und ich würde mir um andere das Maul zerreißen.
Ohne den Kampf unterdrücke ich mich selbst, und das gibt schöne Langzeitfolgen.
Was ist ein Kämpfer ohne Schild?
Schutzlos.
Was ist ein Kämpfer ohne Schwert?
Kein Kämpfer.

Also kämpfe und schreite voran. Schließlich: Wenn du mit dir selbst kämpfst, bist du weder Verlierer noch Gewinner. Du wirst immer beides sein.