03.12.2019
Von unfertigen U-Bahnhöfen
von Alina von Klischee gelesen am 03.12.2019
Jeden Tag sehe ich das Unperfekte, das Unfertige, das „Irgendetwas kommt hier noch hin“. Jeden Tag, in dem U-Bahnhof, genau sechs Minuten von meiner Wohnung im zweiten Stock entfernt. Wenn ich renne, manchmal auch nur fünf Minuten. Doch wieso eigentlich rennen, wenn die U-Bahn doch eh alle fünf Minuten fährt?
„Was sind schon fünf Minuten?“, würde ich gern denken. So habe ich lange gedacht. Häufig schlenderte ich demonstrativ langsam zur U-Bahn und lächelte über die Menschen, welche mit ernster Miene die Treppen hinunterhasteten, begleitet von rhythmisch anpeitschenden Akkordeonklängen des Straßenmusikers. Ich kam mir besonders weise vor, erwähnenswert in mir ruhend, beinahe erleuchtet, wie ich so völlig ohne Zeitdruck, majestätisch, Stufe für Stufe in diesen unperfekten, unfertigen U-Bahnhof schritt. Manchmal verpasste ich mit Absicht die unten wartende Bahn. Einfach um mir zu beweisen, dass fünf Minuten unbedeutend sind.
Nun hat die Uni wieder angefangen. Die Erinnerung, was fünf Minuten bedeuten können, brennt sich erneut in mein Hirn. Vorbei sind die Zeiten des majestätischen Schreitens. Ich bin nur noch Teil der rennenden, hetzenden Masse. Natürlich könnte ich meinen Wecker früher stellen. Aber ich bin eine Meisterin der Selbstüberlistung. Wenn der Wecker früher klingelt, nutze ich diese Zeit, um noch etwas länger im Bett zu bleiben- nicht etwa, um tatsächlich früher aufzustehen. Während ich da so im Bett liege, frage ich mich häufig, was ich wohl alles in dieser Zeit tun könnte. Frühstücken, Yoga, Tagebuch führen, Unikurse vorbereiten, meditieren. Ich könnte so fleißig sein, so produktiv. Ich könnte sogar pünktlich sein und frisch geduscht. „Ja- so würde ich mir gefallen“, denke ich dann und scrolle durch meine Timelines, während ich meine Time verstreichen lasse.
Fünf Minuten vom zweiten Stock zur U-Bahn. Heute Morgen habe ich es nicht geschafft. Fünf Minuten dreißig. Eine schlechte Leistung, die mir jedoch Raum gab, den unfertigen U-Bahnhof zu bestaunen. Seit einem Jahr wird er umgebaut. Seit einem Jahr ist er einfach nur kalt und grau. Kabel hängen von der Decke. Keine weisen Sprüche an der Wand. Keine digitalen Anzeigen, die die ungeduldig wartenden Menschen darüber informieren, wie viele Minuten sie noch an dem Ort verbringen müssen, der sie so sehr mit sich selbst konfrontiert. Überraschung: Es gibt nicht viele Optionen. Eine, zwei, drei, vier oder fünf Minuten. Und trotzdem öffnete ich heute Morgen die Öffi-App, um nachzusehen, wie viele Sekunden genau ich denn heute zu spät kommen würde.
U-Bahnhöfe. Das Warten auf etwas. Zeit zum Denken. Wo bin ich gerade? Wo will ich hin?
Leere Wände, keine Anzeige, keine Ablenkung. Nur ich. Und diese Frau. Ich schaue sie an. Sie sieht weg. Fremde.
Handys, scrollen, tippen, Sorgen. Wie viele Minuten komme ich zu spät? Sorgen. Termine. Drei Minuten oder vier? Jede Sekunde zählt. Kabel von den Decken. Akkordeonklänge. Kopfhörer zur Übertönung.
Ich starre auf die leere Wand. Da muss doch noch etwas hin. Seit einem Jahr warte ich, dass sich endlich etwas ändert. In diesem U-Bahnhof, in mir. Alles ändert sich, alles und doch irgendwie nichts. Wer bin ich überhaupt, wenn ich so viel renne? Kann man so schnell rennen, dass man sich selbst verliert?
Rauschen. Die U-Bahn.